Chronik der Aistaiger Narrenzunft

1896 verlief die Fasnet erstmals in etwas geordneten Bahnen, vorher war es halt ein wildes Treiben. Damals hieß es Narrenvereinigung, nicht Narrenzunft.

1906 war der größte Umzug; man ließ ein Modell der Burg Bogenegg, die aus dem 12.Jahrhundert stammt, auf dem Wasen aufbauen und an der Fasnet bestürmen; dreihundert Reiter, viele Wagen und sonstiges Personal waren dazu erforderlich. So ging die Fasnet jedes Jahr weiter, bis 1914 der 1.Weltkrieg ausbrach.

1922 kam die Inflation, die bis 1923 dauerte und die Fasnet in Aistaig ganz zum Stillstand brachte.

1924 wurde die erste Narrenzunft gegründet -nicht mehr Narrenvereinigung-, die im Gründungsjahr schon 100 Mitglieder zählte. Im selben Jahr wurde das 1. original Aistaiger Narrenkleid vorgestellt und bei den schwäbisch alemannischen Narrenzünften angemeldet. Das damalige Kleid ist heute unser Narro.

1936 brach die Zunft auseinander. Bis dahin wurden jedes Jahr Umzüge durchgeführt.

1938 wurde die Zunft wieder gegründet und auch der 1.Umzug der neugegründeten Zunft fand statt.

1939 brach der 2. Weltkrieg aus und die Fasnet wurde wieder stillgelegt.

1947 wurde mit Zustimmung der Besatzungsmächte der 1. Umzug nach dem Krieg durchgeführt; seit dieser Zeit gibt es an der Fasnet in Aistaig einen Umzug.

1968-69 Gründung des Narrenrings oberer Neckar in Aistaig

1972 Narrentreffen des Narrenrings oberer Neckar in Aistaig

1979 Narrentreffen des Narrenrings oberer Neckar in Aistaig

1985 wurde das l. Dorffest in Aistaig gefeiert und zwar vom 14.-15.09. Die Narrenzunft beteiligte sich an diesem Fest, das in der Mafellstraße stattfand.

1986 Am Bürgerball wurde das neue Narrenkleid (der Kropfer), das Präsident Fritz Lehmann entworfen hat, vorgestellt. Das 1. Kropferkleid, wurde vom Elferrat Egon Ade gekauft, und lief am Sonntag beim Kinderumzug mit.

1987 im Juli und August wurde vom Präsident Fritz Lehmann, Elferrat Egon Ade, Theo Schuhmann und einigen anderen Elferräten eine neue Dorffesthütte gebaut. Der reine Selbstkostenpreis betrug ca. 10.000 DM.

1990 Narrentreffen des Narrenrings oberer Neckar in Aistaig

1991 fand wegen des Golfkrieges keine Fasnet statt.

1997 wurde von den Jung-Elferräten am Bürgerball das Bennerrößle wieder eingeführt und vorgestellt.

1999 wurden für den Elferrat neue Westen und Hosen für die Burgherrentracht angeschafft. Bestickt von der Firma Leis in Schömberg, geschneidert von der Frau Fuchs aus Epfendorf.

1999 bei der Generalversammlung am 26. März in der Krone wurde Gerd Lewald zum neuen Präsidenten der Narrenzunft Aistaig einstimmig gewählt. Der amtierende Präsident Fritz Lehmann verabschiedete sich nach 25-jähriger Amtszeit, und wurde zum Ehrenpräsidenten der Narrenzunft Aistaig ernannt.

2004 Narrentreffen des Narrenrings oberer Neckar in Aistaig

2016 Narrentreffen des Narrenrings oberer Neckar in Aistaig

2024 100 Jahre Narrenzunft Aistaig, Jubiläums-Jahr verbunden mit vielen närrischen Aktivitäten!

heute Die Zunft hat heute ca. 400 Maskenträger in einer Gemeinde mit etwa 1600 Einwohnern.

Glückselige Fleckenfasnet:

Aistaig, was koscht‘ die Welt…

Seit den 1920ern kümmert sich die Narrenzunft um die Fasnetskultur

 

von Helmut Engisch

 

Das kostbare Stück ist von eher bescheidener Größe, federleicht und strahlt im Silberglanz. Im Grunde aber ist es Blech. Wertvoll jedoch ist die kleine Brosche dank der schriftlichen Botschaft, die ihr eingestanzt ist: „Narrenzunft Aistaig 1924“. Damit ist dieses Vereinsabzeichen der greifbare und untrügliche Beweis dafür, dass die Aistaiger Narretei schon vor der Mitte der 1920er-Jahre in einem Verein organisiert war. Und nicht erst im Jahr 1938, wie selbst altgediente und erinnerungsstarke Aistaiger Fasnetsnarren jahrzehntelang glaubten. So ist es kein Wunder, dass das wertvolle Beweisstück nicht im Zunft-Archiv, sondern in einem Bank-Safe aufbewahrt wird.

 

Auch ein schriftliches Dokument aber belegt die Existenz der Narrenzunft Aistaig bereits in den 1920er-Jahren. Es ist das Protokoll einer Sitzung des „Gauverbands badischer und württembergischer Narrenzünfte“, dessen erweiterter Vorstand sich am 1. Februar 1925 „vormittags um elf Uhr“ im Nebenzimmer des Gasthauses „Raben“ in Villingen traf, um über die Neuaufnahme einiger Zünfte zu beraten. Und nachdem „von den Vertretern“ dieser Zünfte „über die seitherigen Sitten und Gebräuche in den betreffenden Orten berichtet worden war“, wurden die Narrenzünfte von Aistaig, Löffingen, Möhringen, Säckingen und Engen „einstimmig“ in den Verband aufgenommen. Was für die Aistaiger Narrenzunft zweifellos eine Ehre war. Doch war die überregionale Vereinigung zur Stärkung der Traditionsfasnet im deutschen Südwesten, die sich bald schon in „Vereinigung schwäbisch-alemannischer Narrenzünfte“ umbenannte, den Aistaigern auch bei dem Bestreben behilflich, der noch jungen Fasnet im Dorf eine gewisse Unverwechselbarkeit angedeihen zu lassen.

 

Denn seit sich im altwürttembergisch-evangelischen und damit traditionell fasnetsfeindlichen Aistaig vermutlich im späten 19. Jahrhundert zaghaft die Narretei regte, war sie mit den Narrenfiguren Hansel, Narro und Schantle ein genaues Abbild der Oberndorfer Fasnet. Was kein Wunder war, denn die Aistaiger Fasnets-Pioniere haben sich die Narrenkleider fürs dörfliche Narrentreiben üblicherweise in der Nachbarstadt ausgeliehen. Allerdings regte sich in Aistaig offenbar bald auch das Bestreben, die allmählich wachsende Eigenständigkeit im närrischen Erscheinungsbild zu spiegeln. Dafür eignete sich am besten das Narro-Häs, das man – wieder dem Oberndorfer Beispiel folgend – mit Motiven der Ortsgeschichte schmücken konnte. So wurde für die Vorderseite der Aistaiger Narro-Jacke das Phantasie-Porträt eines Burgvogts von der Bogeneck gewählt, die Rückseite wurde in Anlehnung an ein Kirchenwappen mit den gekreuzten Fischen der württembergischen Grafschaft Mömpelgard bemalt, eine Schlange und eine Eidechse schmückten als Symboltiere für die Aistaiger Fauna die Rückseite der Hose, und auf der Vorderseite sollten als Erinnerung an ein einstiges Aistaiger „Nonnenklösterle“ die Gestalten zweier Ordensfrauen Platz finden. An diesen beiden Nonnen als Narrenhäs-Motiv jedoch nahmen die Traditionsexperten des Gauverbands Anstoß, als Josef Rebstock, Johannes Lehmann und Rudolf Müller ihnen im Januar 1925 den neu gestalteten Aistaiger Narro zur Begutachtung vorstellten. Sie fürchteten offenbar, so jedenfalls ist es in den Aistaiger Zunftaufzeichnungen vermerkt, die Narrenkleid-Nonnen könnten öffentlich Ärgernis erregen. Die närrischen Abgesandten von Aistaig immerhin zeigten sich ohne weiteres einsichtig, denn sie wollten vermutlich die bald bevorstehende Aufnahme der noch jungen Zunft in den Gauverband nicht gefährden. Also schlug Josef Rebstock vor, die Vorderseite der Narro-Hose mit zwei Aistaiger Flößern zu bemalen und damit weitere Unstimmigkeiten zu vermeiden.

 

Der aus der Bischofsstadt Rottenburg ums Jahr 1895 nach Aistaig eingewanderte Josef Rebstock war überhaupt ein ungemein rühriger und auch ideenreicher Fasnetspionier. So war seiner Initiative bereits im Jahr 1906 eine närrische Attraktion zu verdanken, die weitum  Aufsehen erregte. Er hat ein historisches Fasnetsspiel organisiert, das als „Historischer Fastnachtsumzug“ deklariert war und am Montag, 26. Februar zur „Erinnerung an den Übergang des Schlosses Bogeneck an Württemberg vor 600 Jahren“ aufgeführt wurde. Rund 80 kostümierte Darstellerinnen und Darsteller – zu Fuß die einen, die anderen hoch zu Ross – versammelten sich an jenem Fastnachtsmontag „nachmittags 1 Uhr“ bei der auf dem Wasen kunstvoll nachgebauten Burg. Um halb zwei Uhr bezogen „sämtliche Gruppen“ das ihnen zugewiesene Lager, um „punkt drei Uhr“ mit der „Erstürmung des Lagers von Ritter Guntram“ zu beginnen, die in der Gefangennahme des Bogeneck-Recken gipfelte. Bereits um „halb vier Uhr“ aber wurde dieser von den Herzögen von Teck wieder aus seiner misslichen Lage erlöst, und die Befreier übernahmen die Herrschaft über den Aistaiger Adelssitz. Nachdem der mächtige Zug dann auf dem Wasen „mit Vorantritt der Musik“ zum „Umzug  durch den Ort“ aufgebrochen war, wurde bei einer Tribüne im „Kronen“-Garten Halt gemacht. Dort wurde die Aistaiger Burg um 4000 Pfund Heller an den württembergischen Grafen Eberhard verkauft. Vor diesem Handel aber hatte der „Fabrikarbeiter Steidinger noch ein von Pfarrer Schmid verfaßtes Gedichte vorgetragen“. Und gefeiert wurde der Erfolg dieses eindrucksvollen Fastnachtsspiels dann abends von sieben Uhr an bei einem Ball im „Ochsen“, für den alle „Nichtmitspielende“ 50 Pfennig Eintritt zu berappen hatten. Auch der Chronist der „Sulzer Neckarchronik“ zeigte sich von dem historischen Spektakulum ungemein angetan. Er notierte, dass „in den Lagern“ auf dem Wasen „trotz des abscheulichen Wetters fröhlichste Stimmung herrschte“ und lobte in seinem Zeitungsbericht das Aistaiger Fastnachtsspiel: „Die ganze Aufführung, deren Leitung in den Händen des Müllers Vollmer lag, darf als eine wohlgelungene bezeichnet werden.“ So durfte zweifellos auch Josef Rebstock, der beim grandiosen Schauspiel den Burgvogt gegeben hatte, mit dem Erfolg seiner Idee zufrieden gewesen sein.

 

Zur Tradition geworden sind fastnächtliche Historienspiele wie das Aistaiger vom Jahr 1906 allerdings auch anderorts nicht. Trotz mannigfacher Schikanen durch die sittenstrenge Obrigkeit hat sich in den Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wieder die Fasnet nach althergebrachter Art auch gegen karnevalistische Experimente durchgesetzt. Und dafür hat sich dann zur zweiten Hälfte der 1920er-Jahre auch die neugegründete Aistaiger Narrenzunft mit ihren Elferräten Bernhard Bury, Josef Rebstock, Johannes Schittenhelm, Johannes Lehmann, Heinrich Kaufmann, Albert Haas, Albrecht Guhl, Christian Steidinger, Rudolf Müller und Rudolf Wössner stark gemacht.  So zogen nun zwischen dem „Schmotzigen“ und dem Fasnetsdienstag wieder Hansel, Narro und Schantle, doch auch Dominos, Bajasse und Mäschkerle durch den Flecken. Zumindest bis zum Jahr 1936, denn in jenem Jahr, so vermerkt es die Zunft-Chronik lapidar, „gab es Unstimmigkeiten innerhalb des Vereins, welche zur Auflösung der Narrenzunft führten“. Bereits zwei Jahre später aber wurde der Neuanfang gewagt. Am 13. März 1938 lud der bereits fasnetserprobte Karl Berger in den „Ochsen“ ein, um das Narrenzunftwesen wieder zu beleben. 34 Fasnetsbegeisterte trugen sich an jenem Freitagabend in die Gründungsliste ein, die Versammlung beschloss einen Mitgliedsbeitrag von drei Reichsmark, und überdies wurde jedes Zunftsmitglied verpflichtet, sich mit sieben Reichsmark an den Kosten für die Narrengaben zu beteiligen. So gab es im Jahr darauf in Aistaig wieder einen von der Zunft organisierten Narrensprung, an dem sich immerhin fünf Hansel, fünf Narro und vier Schantle beteiligten. Und außerdem ein Polizeischantle, der mit würdiger Miene und gezücktem Säbel in jenem Jahr zum ersten Mal das Publikum beeindruckte. 1050 Brezeln, 300 rote Würste, 100 schwarze Würste, 100 Kilogramm Orangen und 25 Kilogramm Bonbons wurden über die Fasnetstage des Jahres 1939 laut Vereinschronik ausgeworfen. Eine Spendierfreude, die bei insgesamt 14 Maskenträgern allerdings ein wenig verwundert.

 

Diese neuerliche Aufbruchsstimmung währte jedoch nur kurz. Während des Zweiten Weltkriegs verboten sich alle närrischen Aktivitäten, doch konnte sich die Zunft am 3. Januar 1948 wieder im „Ochsen“ versammeln. Und wenig später erlaubte die französische Militärregierung auch den Aistaigern wieder, Fasnet zu feiern. In langen dunklen Mänteln und mit glänzenden Zylindern schritten die Zunfträte Karl Berger, Johannes Lehmann, Ernst Bieser, Franz Haas, Theodor Leicht, Wilhelm Eberhard, Walter Gäbele und auch die Zunfträtin Frieda Lehrer dem Umzug des Jahres 1948 voran, dem ersten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und im Jahr 1950 ergänzten zwei Benner-Rössle mit ihrem Treiber die noch sehr überschaubare Narrenschar. Aufgeschlossen für Neues zeigten sich anfangs der 1950er-Jahre auch die Elferräte, denn sie tauschten ihre ein wenig bieder wirkenden Zylinger gegen spitzzipfelige Narrenkäppchen nach rheinisch-karnevalistischem Vorbild. Doch auch sich selbst haben die Zeremonienmeister der Aistaiger Fasnet zu jener Zeit immer wieder ausgetauscht; der schnelle Wechsel im Elferrat wurde geradezu vereinstypisch. Und für den Narrensprung am Fasnetsdienstag blieb es noch auf Jahre hinaus typisch, dass sich auch freie Gruppen dem Umzug anschlossen. Was wenig verwunderlich war, denn ein traditionelles Narrenkleid war damals mehr noch als heute eine kostspielige Anschaffung. Im Jahr 1951 etwa kostete das Schnitzen einer Maske 35 Mark, das Bemalen fünf Mark, für ein Geschell mit vier Riemen oder 36 Rollen waren 60 Mark zu berappen und für das maßgeschneiderte Narrenkleid inklusive Stoff 55 Mark. Wobei sich die Preise je nach Narrentyp deutlich unterschieden. Die Ausstattung eines Narro mit aufwändig bemaltem Häs und schwerem Geschell war natürlich deutlich teurer als das eines Schantle im schlichten Rupfenkleid.

 

Gleichwohl nahm die Zahl der Aistaiger Traditionsnarren stetig zu und auch die Dramaturgie der dörflichen Fasnet wurde abwechslungsreicher. Im Jahr 1960 kaufte die Zunft ein Schlagzeug,   

um damit den instrumentalen Grundstock für eine Schantlekapelle zu schaffen, die seither fester Bestandteil des Fasnetstreibens ist. Begeistert wurde im Jahr 1965 der Ortswechsel des fasnetssamstäglichen Bürgerballs vom „Ochsen“-Saal in die neuerbaute Turnhalle gefeiert. Die bot für die Auftritte der närrischen Gruppen nun bedeutend mehr Platz und war auch der Bewegungsfreude beim Tanzen überaus förderlich. Und drei Jahre später, als sich Zunftspräsident Heinz Peter von seinem Amt zurückzog und Hermann Steidinger für ihn gewählt wurde, registrierte das Amtsgericht die Narrenvereinigung offiziell als „Narrenzunft Aistaig e. V.“

 

Die lange Zeit in den Zünften rund um Oberndorf auf Initiative des Aistaiger Gärtnermeisters und bewährten Elferrats Alois Stauß diskutierte Frage, ob man dem Beispiel anderer Narrenvereinigungen folgen und sich zu einem regionalen Bündnis zusammenschließen solle, wurde im Jahr 1969 entschieden. Die Zünfte von Boll, Bochingen, Epfendorf, Waldmössingen, Hochmössingen und Aistaig gründeten den Narrenring „Oberer Neckar“ und kamen überein, regelmäßig gemeinsame Narrentreffen zu veranstalten und so die Eigenständigkeit gegenüber den städtischen Narrenhochburgen der Nachbarschaft zu stärken.

 

Einen neuen Akzent bei der Aistaiger Fasnet setzten beim Bürgerball 1969 acht tanzfreudige und von Ellen Lehrer geschulte Mädchen, die sich als neue Zunft-Garde vorstellten. Und fortan bereicherten die Garde-Mädchen nicht nur die Zunft-Bälle, sondern auch die Fastnachtsumzüge. Eine lang ersehnte und unüberhörbare Neuerung erlebten die Aistaiger Narren und ihr Publikum im Jahr 1971. Hatte der Musikverein bisher den Narrensprung und andere Fasnetsaktivitäten mit dem Rottweiler Narrenmarsch, dem „Alte-Jäger-Marsch“ und dem Marsch der „lustigen Holzhackerbuam“ begleitet, erklang nun der Aistaiger Narrenmarsch. Komponiert hatte das eingängige Musikstück der Dirigent der Aichhaldener Musikkapelle Walter Pfeifle in der blasmusikfreundlichen Tonart B-Dur und nach einem Text der Aistaiger Elferräte. Die Zunft-Poeten hatten Motive aus der örtlichen Überlieferung in geschmeidige Reime gefasst und sie mit einem eingängigen Refrain verbunden: „Aistaig, was koscht‘ die Welt, drei Pfennig ist mein bares Geld…“ Geschmackssicher zeigten sich auch die Aistaiger Elferräte, als sie sich beim Bürgerball des Jahres 1974 in ihrem neuen Zunftgewand, der Burgherrentracht, präsentierten. Die schmucken  Kostüme hatten ihnen vier Elferratsfrauen kunstvoll und geschmackssicher auf den Leib geschneidert.

 

Eine neue Ära begann bei der Aistaiger Narrenzunft, als im Jahr 1975 Fritz „Fitze“ Lehmann zum Vorsitzenden gewählt wurde. Er war nach Johannes Lehmann, Arthur Kirner, Karl Berger, Heinz Peter,  Hermann Steidinger und Erwin Diem der siebte Zunftpräsident der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und blieb dann ein Vierteljahrhundert im Amt. Und neben seinen Aufgaben, den Aistaigern Jahr für Jahr eine glückselige Fasnetszeit zu bescheren und einige große Narrentreffen auszurichten, hat er seinem Heimatdorf die erste ganz und gar eigenständige Narrenfigur, den „Aistaiger Kropfer“, beschert. Inspiriert hat ihn bei seiner Suche nach einem unverwechselbaren, originellen Narrentyp der althergebrachte Spitzname „Kropfer“ für die Aistaiger. Die litten über Jahrhunderte besonders zahlreich an einer krankhaften Vergrößerung der Schilddrüse, dem Kropf, die üblicherweise durch Jodmangel verursacht ist. Und für dieses Leiden wurden sie dann auch noch bespöttelt. Das Temperament seines „Kropfers“ stellte sich Lehmann eher bedächtig vor und als eine charaktervolle Alternative zum Schantle. Als einen alten Mann mit Stock dachte er sich den „Kropfer“, seine Maske durfte durchaus von eindrucksvoller Größe und überdies einem lebenden Aistaiger nachempfunden sein. Beim Nachsinnen über ein leibhaftiges Vorbild dafür fiel ihm dann der Schuhmacher Hannes Grötzinger ein, der nicht weit von ihm wohnte und immerhin die Hutgröße 66 aufweisen konnte. Das „Kropfer“-Häs sollte fein gewoben sein und nicht bemalt, sondern mit Motiven aus der Aistaiger Historie bestickt. Und als Besonderheit sollte die „Kropfer“-Maske mit drei Weinbergschnecken besetzt sein als Hinweis auf jene Zeile des Aistaiger Narrenmarschs, die die Bewohner des Dorfs als „Schneckenfänger“ anspricht. Eine Vorgabe, die den Winzelner Maskenschnitzer Karl Schweikert, der schließlich mit der Gestaltung eines „Kropfer“-Prototyps beauftragt wurde, nicht unbedingt begeisterte. Am Ende aber ließ sich der Meister dann doch auch aufs Schneckenschnitzen ein. Das Schnitzen eines Kropfs für den „Kropfer“-Hals immerhin blieb dem wackeren Künstler erspart. Der wurde aus Plastikmasse geformt, und so trägt der Aistaiger Paradenarr zumindest daran nicht schwer. Bei der Stoffauswahl und im Blick auf die Stickarbeiten erwies sich der neue Aistaiger Narr dann allerdings wieder als ausgesprochen anspruchsvoll. Am Ende aber wurden auch diese Probleme gemeistert, und als sich der „Kropfer“ beim Bürgerball 1986 in seiner ganzen Pracht vorstellte, wurde er begeistert in die Narrenschar aufgenommen. Und am Fasnetsdienstag jenes Jahres durfte er zum ersten Mal auf die Gass‘. Elferrat Egon Ade hatte sich als erster das neue Narrenkleid angeschafft, sich damit in den Umzug eingereiht und durfte die Bewunderung des Publikums genießen.

 

So hat die Aistaiger Fasnet in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg Schritt für Schritt an Eigenständigkeit gewonnen. Die Zahl der Traditionsnarren, die ursprünglich selbst beim Dienstagsumzug oft das doppelte Dutzend kaum übertraf, hatte bedeutend zugenommen. Nach und nach verschwanden die Mäschkerle, die Dominos und auch die oft aufwändig und mit launiger Phantasie gestalteten freien Narrengruppen aus den Umzügen. Sie mussten sich nun mehr und mehr die Wirtschaften zum Tummelfeld ihrer närrischen Temperamente machen. Und es war bald auch kaum mehr vorstellbar, dass sich in den frühen 1950er-Jahren der Zunftpräsident Arthur Kirner von Kopf bis Fuß als rheinischer Karnevalsprinz ausstaffiert und von der Pritsche eines dorfbekannten Elektrowägelchens das Narrenvolk gegrüßt hatte. Die Traditionsnarren nahmen nun Abstand von schwarzgewandeten Banditen und romantischen Revolverhelden, von rotgeschminkten Neckartal-Indianern und kenntnisreich zusammengestellten „Zigeuner“-Gruppen. Und selbst Mäschkerle und Dominos waren schließlich als Umzugsbegleiterinnen nicht mehr willkommen. So war die Narrenzunft über die Jahre und ohne großes Aufsehen mit ihrer Strategie erfolgreich, das Fasnetstreiben in geordnete Bahnen zu lenken und nach den Maßgaben eines klar geregelten und eher streng gefassten Brauchtumsverständnisses zu gestalten. Doch wurde die dörfliche Fasnetsdramaturgie auch von Entwicklungen beeinflusst, auf die die Narrenzunft keinen Einfluss hatte. Mit dem fortschreitenden Aistaiger Wirtshaussterben gingen nach und nach jene Orte verloren, die über Jahrzehnte den Narren eine selbstverständliche Heimat gewesen waren. Was die Schantle und später auch die Kropfer besonders empfindlich traf, denn ihre Stationen beim Aufsagen am Schmotzigen wurden zusehends weniger. Und weil auch der Narr nicht gern für Selbstgespräche dichtet und auf Publikum verzichtet, verlor so mancher Schantle und Kropfer mit der Zeit die Begeisterung für die hohe Kunst des Aufsagens. Was die Zunft natürlich sehr bedauerte.

 

Doch schafft sich oft Neues Raum, wenn liebgewordene Traditionen in Gefahr sind. Um den Fasnetsmontag, der lange Jahre durch das Narrentreiben auf den Straßen und die Fasnets-Gemütlichkeit in den Wirtschaften bestimmt war, neu zu beleben, entschloss sich Kurt Esslinger als neuer Ortsvorsteher, zur Fasnet 1981 zu einem Rosenmontagsempfang ins Rathaus einzuladen. Narrenzunft und Musikverein begrüßten diese Idee, und seither ist der Aistaiger Ratssaal am Fasnetsmontag eine gut besuchte Narrenstube und der bevorzugte Ort, um die Kapriolen der Kommunalpolitik zu kommentieren und die Kuriositäten des Dorfleben im Licht der Narrenweisheit zu erhellen. Und inzwischen trägt auch dieses Rathaus-Narrentreiben die Patina der Tradition.

 

So verfestigte sich die Abfolge der Aistaiger Fasnetsaktivitäten mit den Jahren zu einem festen Ritual der närrischen Ereignisse. Die Fasnet beginnt in Aistaig am 6. Januar oder Dreikönigstag, an dem die Narrenzunft zum Abstauben des Narrenhäs‘ einlädt. Dabei informiert der Zunftmeister auch über die Höhepunkte der bevorstehenden Fasnetszeit, und die Schantlekapelle stimmt musikalisch auf die „fünfte Jahrerszeit“ ein. Die nächsten Wochen sind dann üblicherweise für die Teilnahme an den Narrentreffen der Region reserviert, eine Woche vor dem Fasnestsamstag aber zieht die Schantlekapelle durchs Dorf und stimmt auf die nahe Fasnetszeit ein. Am Sonntag darauf ist Bürgerballkartenverkauf und am schmotzigen Donnerstag besuchen die Narren mit der Schantlekapelle die Schule. Am Abend des Schmotzigen stellen sich Schantle, Kropfer und närrische Gruppen zu einem kleinen Umzug in der Suppengasse auf, der dann zum nahen Flößerbrunnen zieht. Zu einem Umtrunk im Dorfzentrum können sich die Narren und ihr Publikum am Schmotzigen und überhaupt über die Fasnet seit 2019 in der „Kropferbude“ treffen. Der Verkaufsraum der ehemaligen Metzgerei Bantle wurde von handwerklich versierten Elferräten zu einem Fasnets-Bar umgebaut.  Der weitere Abend gehört dann den Schantle und den Kropfern, die sich mit ihren Narrenbüchern dorthin aufmachen, wo sie das Narrenvolk vermuten, und auch für die närrischen  Gruppen und Mäschkerle ist der Schmotzige der große Tag ihrer charmanten bis deftigen Umtriebe.  

 

Der Bürgerball am Abend des Fasnetsamstags beginnt mit dem Einmarsch des Elferrats, der Garde und der Narrengruppen, danach gehört die Bühne jenen Akteurinnen und Akteuren, die seit Wochen oder Monaten an ihren Vorführungen gefeilt haben und darauf brennen, ein gutgelauntes Publikum zu beeindrucken oder gar zu begeistern. Fest im Ballprogramm verankert ist auch die Verlosung einer Tombola, und wer dabei den ersten Preis gewinnt, darf sich über ein von der Zunft ausgelobtes  Aistaiger Narrenkleid freuen.   

 

Der Sonntagnachmittag gehört dem närrischen Nachwuchs, der nach seinem Umzug von der Wehrstraße zur Festhalle nach jahrzehntealtem Brauch mit Wurst und Wecken belohnt wird. Am Vormittag des Fasnets- oder Rosenmontag besuchen die Narren die Kindergartenkinder, versammeln sich dann auf dem Aistaiger Rathaus , besuchen danach die Seniorinnen und Senioren im Aistaiger Pflegeheim oder daheim, und am Nachmittag ist fröhliches Narrentreiben auf der Gass‘.

 

In der steilen Suppengasse stellen sich am frühen Dienstagnachmittag die Narren und die Musikanten zum großen Umzug auf und bekräftigen beim ersten Ton des Narrenmarsches dessen wegweisende Auskunft: “M‘r kommet g’rad vom Schneckafanga d’Suppagassa ‘ra…“ Bei einigermaßen tauglichem Wetter ziehen die Narren am Dorfplatz und am Rathaus vorbei dorfauswärts, machen bei der Einmündung der Ortsstraße in die Landesstraße kehrt, und beim Bahnübergang wird die Narrenschar üblicherweise durch niedergehende Bahnschranken geteilt. Eine Unterbrechung, welche die Narren hüben und drüben der Bahnstrecke mit einer pausenfüllenden Schunkelrunde gern überbrücken, bis sie dann wiedervereinigt weiterziehen zum Umzugsziel Turn- und Festhalle. Beschlossen werden die närrischen Feiertage dann am Dienstagabend mit dem Fasnets-Vergraben, das von herzerweichendem Jammern und Wehgeschrei über das wiederum allzu frühe Ende der Fasnetszeit begleitet wird.

 

So hat sich die Aistaiger Fasnets-Dramaturgie über Jahre hin eingespielt und wurde auch weiter gepflegt, als am 26. März 1999 Gerd Lewald, ein Urenkel des Fasnetspionier Josef Rebstock, in der „Krone“ zum neuen Zunftpräsidenten gewählt und Fritz Lehmann zum Abschied aus diesem Amt zum Ehrenpräsidenten ernannt wurde. Gerd Lewald zeigte sich als ein einfühlsamer Bewahrer der Fasnetstradition und hat sich auch beim großen Narrentreffen zum 80-Jahre-Jubiläum der Aistaiger Zunft im Jahr 2004 als umsichtiger Organisator und Gastgeber bewährt. Und unter seiner Regie wurde das Aistaiger Fasnetsgeschehen überdies um eine Neuheit bereichert. Am 4. Februar 2006 vergnügte sich ein vorzugsweise junges Publikum beim ersten Aistaiger Fasnets-Eröffnungsball, der zur „Belebung der Saalfasnet“ erfunden wurde.   

 

Mit der stetig zunehmenden Fasnetsbegeisterung der Aistaiger, die sich nicht zuletzt auch in der eindrucksvoll und verlässlich wachsenden Mitliederzahl der Narrenzunft spiegelte, entspannte sich nach und nach auch das lange Jahre eher distanzierte Verhältnis der evangelischen Kirchengemeinde zum dörflichen Narrentreiben. Während noch in den frühen Sechzigerjahren Pfarrer Theodor Remppis die zum Konfirmandenunterricht verpflichtete Jugend über die närrischen Tage zu Rüstfreizeiten in sichere Hochburgen protestantischer Fasnetsfeindlichkeit verfrachtete, zeigte einer seiner Nachfolger in den Jahren nach der Jahrtausendwende eine ausgeprägte christliche Fasnetsbegeisterung. Die Gottesdienste am Fasnetssonntag in der Aistaiger Kirche mit Beteiligung der Narrenschar im Umzugshäs, bei denen auf der Kirchenorgel der Narrenmarsch erklang, wurden auf Anhieb als eine willkommene Bereicherung der profanen Fasnetsliturgie aufgenommen. Doch musste sich Pfarrer Klaus-Dieter Gress, der sich am Fasnetsdienstag auch als Narro in den Umzug einreihte, ob seiner Begeisterung fürs närrische Brauchtum zuweilen mit dem Widerstand streng pietistisch orientierter Gemeindeglieder auseinandersetzen.

 

Weit über die Aistaiger Dorfgrenzen hinaus erregte die Wahl des Nachfolgers von Gerd Lewald als Zunftpräsident Aufsehen. Am 26. April 2014 wählten die Zunftmitglieder bei ihrer Hauptversammlung Ayhan Ugur, einen jungen Mann mit Migrationshintergrund, zum Vorsitzenden des schwäbischen Traditionsvereins. Allerdings hatte sich der „Zunftpräsident mit türkischen Wurzeln“ bei seiner Wahl längst als stilsicherer Brauchtumsaktivist erwiesen. Narrensprung-Erfahrung hatte er von Kindesbeinen an gesammelt, im Jahr 2003 bei der Schantlekapelle die große Trommel übernommen und sich im Jahr 2007 als Elferrat ins Führungsteam der Zunft eingereiht. Schon zwei Jahre nach seiner Amtsübernahme durfte die Aistaiger Zunft zu fünften Mal ein Ringtreffen des Narrenrings Oberer Neckar ausrichten, dessen Auftakt am Abend des 15. Januar 2016 in einem Schneetreiben unterzugehen drohte, dem zwei Tage später, beim sonntäglichen Umzug mit rund 3 500  Hästrägerinnen und Hästrägern, jedoch winterliches Bilderbuchwetter beschieden war. Und auch die nach den Festfreuden aufkommende Befürchtung, dass diese närrische Großveranstaltung die finanzielle Leistungskraft der Aistaiger Zunft gesprengt haben könnte, löste sich schließlich in Wohlgefallen auf.

 

Die über Jahrzehnte und bei zahlreichen Dorffesten bereits geübte Tradition der Aistaiger Narrenzunft, sich nicht nur zur Fasnetszeit als dorfgemeinschaftsstärkender Verein zu bewähren, bestätigte sich im Jahr 2017 erneut. Im April jenes Jahres lud die Zunft zu ihrem ersten „Bärlauchfest“ auf den Dorfplatz ein. Im Festzelt beim Flößerbrunnen wurde ein Wochenende lang zu volkstümlicher Begleitmusik das würzige Wildgemüse in delikaten Variationen serviert, und ein attraktives Oldtimer-Treffen war die willkommene sonntägliche Festbeigabe für Automobil-Traditionalisten.

 

Schwere Zeiten für Vereinsaktivitäten jeglicher Spielart waren bereits angebrochen, als Ayhan Ugur im Frühjahr 2021 das Amt des Zunftpräsidenten niederlegte, nachdem er Aistaig als seinen Lebensmittelpunkt aufgegeben hatte. So sah sich sein Nachfolger Timo Hiller-Giek mit seinem jungen Elferrats-Team vor die Herausforderung gestellt, die traditionellen Fasnetsaktivitäten an den durch die Covid-Pandemie bedingten Alltags-Einschränkungen auszurichten. Zwar musste das Narrenvolk nun auf die gewohnten Fasnetshöhepunkte zwischen Dreikönigstag und Aschermittwoch verzichten, doch regte sich da und dort humorgestärkt die Phantasie und setzte ungewohnte närrische Akzente. Am Schantle-Samstag 2021 zog ein einzelner Repräsentant der Schantle-Kapelle mit einem Leiterwägele durchs Dorf, auf dem ersatzweise ein elektronisches Musikalienkästchen die bekannten Narrenweisen intonierte. Ein liebevoll gestaltetes „Narrenblättle“ bot jenen Unterhaltungsstoff, den üblicherweise Schantle und Kropfer mündlich unters Volk bringen, und bei der Aktion „Fensterfasnet“ verwandelten sich Hausfassaden in närrische Erlebniswelten. Auf dem Platz vor der „Kropfer-Bude“ bewies die Aistaiger Narrenzunft 2022 überdies, dass sich ein Fasnetsball auch unter freiem Himmel feiern lässt und das Virus der Fasnetsbegeisterung seine ansteckende Wirkung so leicht nicht verliert. Wobei sich traditionelle und gesundheitsbewusste Maskenträger in stimmungsvoller Gemeinsamkeit vergnügten und auf die Wiederkehr einer Fasnet nach gewohnter Manier die Gläser erhoben.